Rückenschmerzen und Verkrampfungen im Schulter und Nackenbereich begleiten mich schon seit sehr vielen Jahren. Dagegen hilft wenig, weder Gymnastik noch Massagen noch Tabletten oder Salben zeigten je wirklichen Erfolg. Alle paar Jahre, meist nach einigen schlaflosen schmerzgeplagten Nächten, suche ich einen Orthopäden auf und lasse mir empfehlen, was gerade in ist. Mal ist es Elektrotherapie, mal Fango, mal wird mir geraten, nicht mehr am PC zu arbeiten.
Die bisher grandioseste Diagnose stellte einst in den siebziger Jahren eine (West)Berliner Ärztin aus einem Ärztekollektiv: Diese Verspannungen deuteten auf versteckte Aggressionen hin und ich sollte mich am gesellschaftlichen Kampf gegen das Kapital beteiligen, um diese Aggressionen abzubauen … oder so ähnlich. Marxismus-Leninismus schien damals wirklich gegen alles zu helfen. Ich kaufte mir also das Manifest der Kommunistischen Partei, kam aber nicht über die ersten drei Seiten hinaus und die Schmerzen blieben.
Eine Frau aus meinem Bekanntenkreis hatte einen ganz anderen Vorschlag: Wie wäre es denn mit einem BH?, fragte sie mich und klärte mich darüber auf, dass mein mittlerweile altersgerecht etwas hängender Busen an der Misere Schuld sein könnte. Nun, dies ist die vornehme Umschreibung ihrer Worte. In Wahrheit murmelte sie so was wie Vielleicht solltest du deinen Möpsen mehr Halt geben, bist ja auch nicht mehr 18 …
Ich bin ja dankbar für jeden Vorschlag und so lange er sich finanziell im Rahmen hält, versuche ich auch, ihn umzusetzen. Diese BH Geschichte jedoch war nicht so einfach zu realisieren. Aus grauer Vorzeit erinnerte ich mich noch daran, dass es da wohl nicht nur verschiedene Formen, Farben und Materialen gibt, sondern auch spezielle Größen, katalogisiert nach A, B, C und so weiter. Welche Stelle des Alphabets ich brauche, wusste ich nicht. Außerdem beschränkten sich meine Kenntnisse auf sogenannte Still-BHs, die ich mir einst zwar angesehen, aber nie selbst getragen hatte. Ob das ABC auf die Alltäglichen auch zutraf?
Die Liebste entpuppte sich ebenfalls als absolute Niete bezüglich dieses weiblichsten aller weiblichen Kleidungsstücke. Wie ich gehört sie der Generation von Frauen an, in deren Jugend die 68erinnen öffentlich ihre BHs verbrannten und sie als Teil der Verschwörung des Patriarchats, somit also für Feministinnen als pfui-pfui, bezeichneten.
Doch wozu gibt es denn das Internet? Angeblich gibt es keine Frage, die dort nicht beantwortet werden kann. Wir recherchierten und fanden Erstaunliches. Das erste Patent auf dieses Ding wurde um 1860 in den USA erteilt. Trotzdem, noch in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts konnte frau einen BH nur in speziellen Läden kaufen. Verschämt eingewickelt in Seidenpapier. Kein männliches Wesen durfte dabei sein, wenn der Büstenhalter aus dem Karton geholt und der Kundin gezeigt wurde.
Seit die Frauen Ende der sechziger Jahre ihre BHs in der Öffentlichkeit verbrannten, ist es mit der Geheimniskrämerei vorbei. BHs gibt es heute zwar immer noch in speziellen Geschäften für ein Schweinegeld zu kaufen. Aber auch am Krabbeltisch im Kaufhaus gehören sie zum Alltag und schon Zweijährige wissen, wofür sie gut sind. Vorausgesetzt diese Kleinkinder wachsen nicht bei Frauen wie mir auf. Das Prinzip ist ja einfach: ein Stück elastischen Stoff einmal rund um, zwei Träger und zwei Ausstülpungen fertig. Je nach Geldbeutel und Geschmack der Frau variieren Material und Form.
All diese Erkenntnisse waren zwar interessant, halfen aber nicht weiter. „Wie finde ich den richtigen BH?“ war immer noch ungeklärt. Da ich nicht in ein Dessousgeschäft in die nächste Großstadt fahren wollte, suchten wir wieder Rat bei Freundinnen die sich fast alle als ebensolche Banausinnen erwiesen, wie die Liebste und ich es waren. Einzig die Freundin, die das Thema aufgebracht hatte, trug selbst so ein Teil. Eine Handvoll Busen sei Körbchengröße C, verkündete sie, und machte sich daran, bei mir Hand anzulegen. Die Liebste ging dazwischen. An diesem Busen grabsche nur ich!
Also kam die Freundin drei Tage später wieder und hatte eine ganze Plastiktüte voll mit diesen Teilen zur Anprobe dabei. Zusammengeschnorrt bei den Frauen ihrer WG und von Kolleginnen. Alle frisch gewaschen! betonte sie. „Und danach musst du sie natürlich auch wieder waschen. Dreckig kann ich sie nämlich nicht wieder zurückgeben.“ Ich verkniff mir den Hinweis auf meine tägliche Dusche. Dass keine Frau ein so intimes Kleidungsstück anziehen wollte, wenn es vorher von einer anderen getragen worden war, war schließlich keine Frage.
Stunden später saß ich fix und fertig im Sessel. Ich hatte weiße, schwarze, blaue und rote Büstenhalter anprobiert. Aus feiner Seide, synthetischer Spitze und popliger Baumwolle. Doch selbst in denen, die mir zu passen schienen, hatte ich mich eingeengt und äußerst unwohl gefühlt. „Vielleicht solltest du erst mal mit einem Übungs-BH anfangen“, schlug die Freundin vor, die sich nicht zwischen Mitleid oder lautem Auslachen entscheiden konnte.
„Übungs-BH?“ wiederholte ich und die Liebste fragte gleichzeitig: „Was ist denn das?“ Die Freundin blätterte in einem Katalog und zeigte uns ein Bild. „Hier, eigentlich heißt es ja Bustier.“ Erstaunt sah ich mir das Bild genauer an. Natürlich hatte ich Bustiers schon gesehen. In meiner Naivität sie aber für normale Büstenhalter oder zu kurz geratene Shirts gehalten. Schließlich war bauchfrei ja groß in Mode. Nach kurzem Überlegen schlug ich diese Möglichkeit aus. Wozu Geld für eine Zwischenlösung ausgeben? Irgendwie würde ich mich schon daran gewöhnen wie andere Frauen auch. Und die Aussicht, vielleicht bald keine Schmerzen mehr zu haben, hatte einen großen Reiz.
Wieder allein blätterten die Liebste und ich in verschiedenen Katalogen und Heften, besahen uns die Auswahl und die teilweise horrenden Preise. Dabei stießen wir auf ein weiteres Problem, von dem bisher nicht die Rede gewesen war: mit Bügel oder ohne? „Was soll denn das heißen?“ wunderte sich die Liebste, denn auf den Abbildungen war für uns kein Unterschied zu erkennen. „Vielleicht werden die einen mit einem Kleiderbügel geliefert und die anderen ohne?“ überlegte ich laut.
Gemeinsam entschieden wir uns für drei Modelle. Einmal schwarz, einmal blau und einmal grau mit schwarzen Pünktchen. Weiß kam für uns beide nicht in Frage. Für biedere Unterwäsche fühlen wir uns noch nicht alt genug. Wir, denn diese Büstenhalter waren schließlich ein Gemeinschaftsprojekt unserer Beziehung. Ich würde sie tragen und die Liebste musste den Anblick ertragen. Rose hätte noch zur Verfügung gestanden. Diese Farbe erinnerte uns an Omas Korsett, was nicht gerade erotisch war.
Eine Woche später brachte der Postbote das Paket und gespannt packten wir aus. Eines war auf den ersten Blick klar: mit Bügel bedeutete wohl doch nicht „Kleiderbügel inklusive“. Obwohl alle drei Büstenhalter dieselbe Größe hatten, ließ uns der Gepunktete laut loslachen. „Das hättest du wohl gerne“, spottete die Liebste und hielt ihn in die Höhe. In die Körbchen hätten locker Wassermelonen hineingepasst.
Blau passte. Schwarz schien auch zu passen, bis ich mich nach vorn beugte. Da piekste mich etwas in der Achselhöhle. Die Bügel. Ich wusste zwar immer noch nicht genau, welchen Zweck sie erfüllten, aber eines war sicher: pieksen lassen wollte ich mich nicht. Während ich Blau schon mal eintrug, schritt die Liebste bei Schwarz zur Tat. Sie öffnete die Naht, zog die Metallbügel heraus und knipste je ein Stück ab. Mit einem Feuerzeug brachte sie etwas Plastikfolie zum Schmelzen und wälzte das nun scharfe Bügelende in der Masse bis ein kleiner Knubbel entstanden war. Am nächsten Tag trug ich einige Stunden Schwarz und nichts mehr piekste in den Achselhöhlen. Obwohl ich mich nur schwer daran gewöhnen konnte, musste ich einige Wochen später zugeben, dass meine Schmerzen längst nicht mehr so schlimm waren und sich der Aufwand gelohnt hatte.