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Späte Erkenntnis. Was eingedampfte Pudelmützen mit Schulschließungen in Coronazeiten zu tun haben.

In den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts kamen Bildungspolitiker:innen der alten Bundesrepublik auf die Idee, Schuljahre nicht mehr an Ostern, sondern im Herbst beginnen zu lassen. Um den Wechsel möglichst reibungslos zu gestalten, standen zwei Möglichkeiten zur Wahl: entweder ein Langschuljahr oder zwei Kurzschuljahre. In Artikeln aus jener Zeit ist nachzulesen, dass darüber heftig gestritten wurde. Weshalb man am Ende der Variante zwei Kurzschuljahre den Vorzug gab, ist für mich ebenso wenig ersichtlich wie überhaupt die Gründe für einen Schuljahresbeginn im Herbst.

Ich selbst habe an diese Kurzschuljahre nur eine konkrete Erinnerung. Im Handarbeitsunterricht der 4. Klasse stand anscheinend auf dem Lehrplan: Stricken mit einem Nadelspiel und die Kunst der Bollenherstellung. Aus Zeitmangel sollten wir nun statt der sonst üblichen Pudelmütze einen Eierwärmer stricken. Gleiches Prinzip, nur wesentlich kleiner. Die Betonung liegt hierbei auf Einem. Ich hatte von meiner Oma längst Stricken gelernt und nach der Vollendung des 3. Eierwärmers gab es für mich keine Wolle mehr. Die Handarbeitslehrerin warf mir vor, die Finanzen der Schule ruinieren zu wollen und verdonnerte mich dazu, den Rest des Schuljahres Schränke aufzuräumen.  Keine Ahnung, ob überhaupt und wenn ja, welche Lehre ich als damals Neunjährige aus der Geschichte gezogen habe. Mit Sicherheit hieß sie aber nicht: „Leistung lohnt sich.“

Wie gesagt, das ist meine einzige Erinnerung an die Kurzschuljahre. Ich gehe aber mal davon aus, dass auch der übrige Lehrplan ähnlich wie die Pudelmütze eingedampft wurde.

Erst mit den Schulschließungen im Frühjahr und den aufkommenden Diskussionen, was Schüler:innen mehr schadet, Ansteckungsgefahr oder Unterrichtsausfall, musste ich wieder an die Kurzschuljahre denken. Harald Schmidt, derselbe Jahrgang wie ich, forderte in diesem Zusammenhang, dass wir endlich für diese Kurzschuljahre entschädigt werden sollen. Ich fand das ziemlich witzig, denn bisher hatte ich noch nie den Eindruck gehabt, dass mir diese Jahre in irgendeiner Form im späteren Leben geschadet haben. Trotzdem googelte ich mal nach Kurzschuljahren und was soll ich sagen? Harald Schmidt hat recht, wir sollten die Bundesrepublik Deutschland wirklich auf finanziellen Ausgleich für entgangene Bildung verklagen!

Die Erfahrungen der deutschen Kurzschuljahre aus den 1960er Jahren zeigen, dass selbst ein vorab geplanter Unterrichtsausfall Spuren hinterlässt, wenn er länger anhält.

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Anhand der deutschen PIAAC-Daten zeigt sich, dass die von den beiden Kurzschuljahren betroffenen Schüler*innen in der Tat insgesamt ein dreiviertel Jahr weniger Unterricht erhalten haben (siehe Hampf 2019, Tab. 3). Dieser Verlust lässt sich auch langfristig noch in den Kompetenzen der betroffenen Schüler*innen ablesen: Noch im Alter von Anfang 50 bis Ende 60 fallen die mathematischen Kompetenzen aufgrund der beiden Kurzschuljahre um rund ein Viertel einer Standardabweichung niedriger aus.

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Die Kurzschuljahre haben langfristig nicht nur die Kompetenzen, sondern auch die am Arbeitsmarkt erzielten Einkommen verringert. Anhand des Datensatzes »Qualifikation und Berufsverlauf« zeigt sich, dass die von den Kurzschuljahren betroffenen Schüler*innen in ihrem Erwerbsleben ein um durchschnittlich rund 5% geringeres Erwerbseinkommen erzielten.

Aus Folgekosten ausbleibenden Lernens: Was wir über die Corona-bedingten Schulschließungen aus der Forschung lernen können (pdf)

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