Mein Großvater war ein leidenschaftlicher Fußballfan gewesen. In jungen Jahren hatte er lange erst selbst gespielt, später war er als Schiedsrichter aktiv gewesen. Meine Großmutter teilte seine Begeisterung nur bedingt. Dieser Sport sei eben auch gefährlich, meinte sie oft und verwies dabei jedes Mal auf seine Zahnlücke. Irgendwann war er einmal mit einem anderen Spieler zusammengeprallt und hatte dabei einen Zahn verloren …
… dachte sie wenigstens, hatte er immer erzählt, hatten ihm alle geglaubt. Erst kurz vor seinem Tod kaum durch Zufall die Wahrheit ans Licht: Den Zahn hatte er bei einer Schlägerei verloren. Bei einer Demonstration, als er mit einer Zaunlatte einen Polizisten verprügelte. Oder sich gegen einen Polizisten wehrte, als dieser ihn verprügeln wollte. Die näheren Umstände ließen sich nicht mehr klären. Noch nicht einmal mehr der genaue Anlass der Demonstration. Wenn er sich richtig erinnerte, war um eine »Bonzenversammlung« der IG Farben gegangen.
Es passierte Anfang der Dreißiger Jahre, er hatte drei kleine Kinder, war arbeitslos, wütend und verzweifelt gewesen. Das Märchen von dem Fußballspiel hatte er meiner Großmutter erzählt, weil sie Angst um ihn hatte und nicht wollte, dass er »an so was« teilnahm. Und wahrscheinlich auch, weil sie ihn sicher gefragt hätte, wieso er denn überhaupt mit einer Zaunlatte zu der Demonstration gegangen war.
Die heutige Bundesrepublik ist ein »Sozialstaat«, sie hat aus der Geschichte gelernt. Die Grundversorgung der Menschen ist durch Hartz IV gesichert. Wirklich verhungern oder erfrieren muss man in unserem Staat nicht. Diese Taktik geht immer noch auf, die meisten Arbeitslosen finden sich mit ihrem Schicksal ab, lassen sich einreden, irgendwie doch eine Mitschuld zu tragen. Sei es, weil sie nicht richtig ausgebildet oder nicht flexibel genug sind oder weil sich nicht rechtzeitig um ihre Anschlussverwendung gekümmert haben.
Niemand hat heute mehr Grund, mit einer Zaunlatte zu einer Demonstration zu gehen. Oder doch? In der Stadt Frankfurt scheint man sich dessen jedenfalls nicht sicher zu sein. Was, wenn all die Arbeitslosen und Geringverdiener und diejenigen, die befürchten, demnächst – wie es bereits in Griechenland oder Spanien geschieht – ebenfalls die soziale Leiter hinunterzurutschen, so wütend wie einst mein Großvater werden?
Grund scheinen sie ja zu haben, warum hätte man sonst vorsorglich die Demonstrationen von blockupy verboten? Eine Stadt fürchtet sich vor dem Zorn einer sozialen Bewegung und während sich die Politiker_innen irgendwo verschanzen, schickt man mal wieder die Polizei vor. Junge Männer und Frauen, deren Einkommen ebenfalls so niedrig ist, dass sie sich in manchen Städten nicht einmal die Mieten leisten können, sollen wie in den Dreißiger Jahren die Drecksarbeit erledigen. Müssen sie erledigen, wenn sie nicht ihren Job verlieren wollen.
Und ich sitze hier am PC, sehe mir den Livestream an und denke an Freund_innen und Bekannte, die jetzt in Frankfurt sind, als Polizist_innen und als Demonstrant_innen. Und ich denke an meine Großväter, den einen mit der Zaunlatte, der damals zum Nazi wurde, und den anderen, der Kommunist war – aus den gleichen Gründen