Zum Inhalt springen

Knoten unter dem Kinn

In meiner Kindheit waren Kopftücher bei Frauen ein üblicher Anblick. Allerdings wurden sie nicht aus religiösen Gründen getragen, sondern um die Haare vor Dreck, Staub oder Nässe zu schützen. Denn in der damaligen Zeit, als Bäder vielerorts noch nicht selbstverständlich zu jeder Wohnung gehörten und Wasserboiler zeitraubend im Holz geheizt werden mussten, gestaltet sich das Haarewaschen oft sehr umständlich.

Schon sehr früh fiel mir die unterschiedliche Art auf, wie die Kopftücher getragen wurden. Manche Frauen verknoteten sie unter dem Kinn, auch bei uns Mädchen wurde das so gemacht. Andere schlangen sie wie einen Turban um den Kopf und der Knoten oben ähnelte manchmal einer Schleife.

Erst viel später habe ich verstanden, dass diese beiden Varianten keineswegs nur reine Geschmacksache waren. Sie gaben auch Auskunft über die Herkunft. Der Knoten unter dem Kinn bedeutet häufig, es handelte sich um Flüchtlinge aus ehemaligen deutschen Ostgebieten, z. B. aus Schlesien und Pommern, oder um deutschstämmige Vertriebene aus Regionen wie Bessarabien.

Nach dem Krieg gehörten in der Bundesrepublik die Flüchtlinge und Vertriebenen mit zu den unbeliebtesten Bevölkerungsgruppen. Zwangseinquartierungen, kleine katholische Dörfer, die plötzlich von Protestant_innen »besetzt« wurden – oder umgekehrt, ihre Dialekte waren kaum verständlich. Ständig erzählten sie von der verlorenen Heimat und dann kam auch noch der Lastenausgleich und man diskutierte heftig über die Frage, was mehr Entschädigung verdiene: Der Verlust von Hab und Gut durch Bomben oder Flucht?

Die, die nichts verloren hatten, sollten denen, die alles verloren hatten, bei der Gründung einer neuen Existenz behilflich sein. Natürlich wissen wir heute, dass dies von Politik keineswegs als reine Menschenfreundlichkeit gedacht war. Dahinter steckten handfeste wirtschaftliche Interessen, doch damals waren viele der Meinung, den Flüchtlingen und Vertriebenen würde alles »vorne und hinten reingeschoben«.

Überall in ländlicheren Gebieten entstanden kleine Siedlungen, kleine einfache Häuschen, mit viel Eigenarbeit gebaut und die Straßennamen verrieten, woher die Bewohner_innen stammten: Breslauer Straße, Ödenburger Gasse, Schlesischer Weg. Die Einheimischen bedachten diese Neubaugebiete häufig mit Schimpfwörtern, eines davon war »Baracken des Kopftuchgeschwaders« gewesen.

In den 70ern gab es eigentlich nur noch eine Gruppe von Kopftuchträgerinnen: Viele ältere Frauen aus dem Osten trugen wie einst in ihren Dörfern lange dunkle Röcke, Strickwesten und verbargen ihre Haare unter Kopftüchern mit einem Knoten unter dem Kinn.

Diese Hartnäckigkeit löste Aggressionen aus. Ihre eigenen Nachkommen war es peinlich, dass sie nicht bereit waren, sich den neuen Zeiten und Gegebenheiten anzupassen. Andere fühlten sich bei diesem Anblick immer wieder neu an den Krieg und die Nachkriegszeit erinnert. Die Ostverträge, die ständigen Vertriebenentreffen, die Angst, dass diese »ewig Gestrigen« einmal Anlass für einen neuen Krieg sein könnten. Diese alten Frauen mit den unter dem Kinn geknoteten Kopftüchern standen für eine Zeit, die man einfach vergessen wollte.

Auf der Karnele werden Cookies gesetzt, z.B. von Anbietern verschiedener Wordpress Plugins und IONOS, dem Webhoster. Wenn Du hier weiterliest, akzeptierst Du deren Verwendung.